Manchmal ist es wichtig, sich neu auszurichten. Sich ehrlich zu fragen, ob das Leben gerade in die gewünschte Richtung läuft. Doch wie stelle ich fest, was richtig und falsch ist? Muss sich der „richtige Weg“ gut anfühlen? Ein paar persönliche Einblicke in meine Vergangenheit und Gegenwart.

Wann ich mir das erste Mal über den Rest meines Lebens Gedanken gemacht habe, kann ich nicht sagen. Es gab auf dem Gymnasium Momente, in denen ich an das vorzeitige Abgehen dachte. Als ich in der elften Klasse beinahe sitzenblieb, zum Beispiel. Und mir mein Mathelehrer erneut sagte, ich gehörte nicht auf diese Schule. Unser Beratungslehrer sah das genauso: In der Beratungsstunde fragte ich nach Aufnahmekriterien für Studiengänge. Das antwortete mir mein Lehrer:

„Ach, Julia. Du gehörst auf kein Gymnasium, und erst recht nicht ins Studium. Geh ab, lass Dir die Nase operieren, dann findest Du vielleicht noch einen passenden Mann.“

Das saß. Ich machte einige Praktika, unter anderem zur Fotolaborantin, konnte mich aber nicht richtig durchringen. Am Ende blieb ich, wo ich war, brachte die Kursstufe hinter mich und schloss mit einem nicht so vorzeigbaren Abitur ab. Danach habe ich mich ein gutes halbes Jahr gefragt, wie es weitergehen soll. Ich wohnte wieder bei meiner Mutter in Hamburg, hatte einige Freunde in der Gegend, überlegte, in einer Kneipe zu arbeiten. Für Germanistik hatte ich mich in mehreren Städten beworben, aber der NC ließ ein Studium kaum zu. Bis eine Bekannte sagte: “Komm doch nach Göttingen, da ist Germanistik zulassungsfrei. Du musst nur Dein Latinum nachholen.“ (Durch das Latinum war ich in der Schule durchgefallen. Mir schien das eine passende Rache vom Universum, aber das ist eine andere Geschichte.)

Mein Studium in Göttingen, das war Aufatmen. Trotzdem erinnere ich mich vor allem im Grundstudium an Orientierungslosigkeit und an Kämpfe. Irgendwann hatte ich den Bogen raus und genoss die Freiheit, die das alte Magisterstudium mit sich brachte. Ich lernte unendlich viel, fühlte mich angenommen und angekommen. Die Fragen nach dem Rest meines Lebens wurden leiser und blieben schließlich aus. Mein damaliger Freund und ich gründeten noch in den letzten Wehen meines Studiums eine Familie. Von da an waren meine Entscheidungen gebunden. Für eine größer werdende Familie da zu sein gab Struktur und Orientierung. Der Tag füllte sich ohne mein Zutun, und auch wenn die Zeiten maximal anstrengend waren, so war das Kinder versorgen, Haushalten und dem arbeitenden Gatten den Rücken stärken sinnstiftend und auf eine Weise erfüllend. Bis das allein es eben nicht mehr war.

Bis die Fragen wiederkamen, nach der Zukunft, nach dem eigenen Weg, nach der Identität und dem, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen soll. Als sie zurückkehrten, hatte ich mich bereits eher durch Zufall für ein Stipendium zur Promotion beworben. Nach dem ersten Geburtstag unserer großen Tochter hatte ich halbherzig ein Promotionsprojekt begonnen, für das ich eigentlich keine Zeit hatte. Parallel dazu unterrichte ich in kleinem Umfang. Das hatte sich irgendwie ergeben. Als der Bescheid kam, dass ich für zwei Jahre ein Vollstipendium erhalten solle, war ich schockiert. Und begann, intensiv an der Dissertation zu arbeiten. Mit einer langen Unterbrechung durch Kind 3 schloss ich ab – dank des Netzwerks, das sich aus der Förderung ergab. Dank des Zuspruchs, den ich plötzlich von verschiedenen Seiten erhielt. Und auch dank meines starken Pflichtgefühls.

Für mich bedeutete der Abschluss der Promotion das vorläufige Ende eines akademischen Wegs, weil ich andere Ideen hatte. Aber ich hatte nicht die Geduld, diese Ideen reifen zu lassen. Ich nahm die erste Arbeit an, die mir passend erschien – und scheiterte. Nicht an dem, was man von mir erwartete. Meine Vorgesetzten schickten mir ein so positives Arbeitszeugnis, dass es mir die Tränen in die Augen trieb, als ich es las. Nein, ich scheiterte an mir, weil ich mir ein paar wichtige Fragen nicht beantwortet hatte. Und so schlecht gewappnet war für das Berufsleben mit seinen Hochs und Tiefs. Der Zusammenbruch kam und hinterließ mich vollkommen schutzlos einer neuen Orientierungslosigkeit ausgesetzt, die ich als bedrohlich, als existenziell empfand. Ich brauchte Zeit. Zeit für ein ehrliches Gespräch mit mir selbst.

Warum erzähle ich das alles?

Bisher, so wurde mir im Rückblick klar, habe ich nur selten wirklich aktiv gestaltet. Ich war nie eine große Planerin, häufig passierte das Leben einfach, und ich richtete mich entsprechend ein, justierte ein paar Schrauben, verfolgte ein paar Ideen. Auf die drängenden Fragen gab ich mir selbst kurzfristige Antworten, die mir passend schienen und vor allem: Die sich gut anfühlten. Aber an diesem Punkt vor einigen Monaten wollte ich nicht in die nächste Entscheidung hineinstolpern. Ich wollte selbst ganz bewusst gehen.

Neben einigen kleinen Projekten und Aufträgen rief ich im Juli karmajob ins Leben. Es war die Antwort auf viele meiner Fragen nach mir selbst, und nach meinem Weg in den nächsten Lebensabschnitt. Eine Art Lebensentwurf am Reißbrett entstand. Früher habe ich über Menschen, die einen 5-Jahres-Plan hatten, schallend gelacht. Immerhin macht das Schicksal gerne jegliche Planung obsolet. Oder wie die großartige Kathryn Schulz in einem Vortrag gesagt hat:

„You thought this one thing was going to happen. But something else happened instead.“

Aber seit ein paar Monaten plane ich, wie ich noch nie einen Schritt geplant habe. Und ich dachte, wenn ich auf dem richtigen Weg bin, dann werde ich das merken. Es wird sich gut und richtig anfühlen, denn plötzlich werden sich alle diese Türen öffnen, die ich jetzt noch nicht sehen kann. Ich dachte an die Management-Literatur, die mein Vater früher las, und an die Ratgeber, die mir mein Bruder empfohlen hat:

„Geh direkt auf Dein Ziel zu, verschwende keine Zeit!“ oder „Auf dem Weg zu seinem Ziel sein ist ein gutes Gefühl!“ Vielleicht auch an einen Satz aus dem „Café am Rande der Welt“: „Wer den Sinn seines Lebens entdeckt hat und ihn jeden Tag verwirklicht, hat keine Angst mehr vor dem Tod.“
Nach dem letzten Jahr und sehr intensiven Monaten der Planung traue ich mich, Folgendes öffentlich mitzuteilen:

Nichts davon ist wahr.

Ich glaube an den Weg, den ich gehe und im letzten Jahr bereits gegangen bin. Aber die meisten dieser berühmten Türen öffnen sich nicht. Sie wissen bisher nicht einmal, dass es mich gibt. Sie bleiben gleichgültig geschlossen, und dem Universum sind meine Versuche, beherzt anzuklopfen, egal. Es ist hart, auf dem richtigen Weg zu sein. Ich bestehe aus den unterschiedlichsten Zweifeln: An mir, an der Welt, an den Menschen. Ich hasse es, nicht im Ansatz zu wissen, wie die nächsten Monate verlaufen und wo ich sein werde. Meine Pläne machen mir Angst, und wenn ich an die Möglichkeiten denke, die sich mir wahrscheinlich bieten werden, möchte ich mich mit einem heißen Tee unter einer Decke verkriechen. Ständig bin ich gezwungen, meine eigene Komfortzone zu verlassen, und ich finde es furchtbar. Dabei bin ich erst am Anfang. In einigen Wochen werde ich darum bitten, bei einem Selbständigen-Netzwerktreffen über mein Projekt reden zu können. Vor einer Gruppe von Menschen, die seit Jahren wissen, wie sie sich am besten verkaufen. Bei dieser Aussicht wird mir kotzübel leicht schlecht. Ich werde unterrichten und coachen, ich werde reisen und schreiben und mich ständig in neue Situationen begeben, die ich unmöglich kontrollieren kann.

Wie konnte ich nur auf so eine Idee kommen?

Nein, es fühlt sich nicht gut an, auf dem richtigen Weg zu sein. Zumindest nicht jetzt. Es fühlt sich sogar echt scheiße an. Diese ganzen Ratgeber erzählen bullshit. Was sie eigentlich meinen, ist dieses:

Wenn Du heute auf dem richtigen Weg bist, wird sich das in einer unbestimmten Zukunft hervorragend anfühlen. Es wird Dir so vorkommen, als hätten sich alle Türen geöffnet, alle Menschen auf Dich gewartet. Du wirst alles Negative vergessen, und in Deiner verklärten Erinnerung wird alles wunderschön, richtig und wahr erscheinen.

Aber heute? Im „jetzt“? Schätzchen, es ist hart. Komm klar.

Gestern überfluteten mich wieder Zweifel. Ich dachte, wenn ich mich streckenweise so mies fühle, dann kann das alles nicht richtig sein, was ich da plane und mache. Ich sehne mich nach bequemen Polstern, nach einem weichem Fall in ein angenehm-wohliges Gefühl. Nach dem erschöpften, aber zufriedenen Ausruhen nach der Anstrengung. Ich will das Feuer in der Berghütte und die heiße Schokolade und die Wolldecke.

Aber zuerst kommt die Kälte, das Eis und der Schnee. Die Anstrengung und das miese Gefühl, sich ständig neu herausfordern zu müssen. Die eigenen Grenzen zu sehen, und sie dann zu überschreiten. Eine nach der anderen.

Dass es sich nicht gut anfühlt, heißt nicht, dass der Weg falsch ist. Es bedeutet nur, dass wir das Leben im Rückblick verstehen. Unsere Entscheidungen ergeben erst Sinn, wenn wir das Gesamtbild betrachten können. Bis dahin darf sich der Weg scheiße anfühlen. Vielleicht muss er das sogar streckenweise.

Ich habe mir übrigens nie die Nase operieren lassen. Es hat sich jahrelang mies angefühlt, mit der geschmähten und offenbar so hässlichen Nase durch die Welt zu laufen. Und dann, irgendwann, viel später, war es gut.

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8 Kommentare

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  1. Also, dass dieser Lehrer Dich einfach nur auf die “Nase” reduziert hat geht ja gar nicht. Schließlich bist Du Julia und nicht Kleopatra. 😉

    Ansonsten muss ich Dir aber sagen, dass Veränderungen eigentlich nur dann stattfinden, wenn man seine Komfortzone verlässt. Und was am Anfang meist nur eine termporäre Exkursion ins unbekannt Land ist wird früher oder später sogar dazu führen, dass sich Deine Komfortzone stark erweitert. Was Dir heute noch Angst macht wird morgen schon zur Routine.

    Ich kann Deine Ängste und Zweifel sehr gut vestehen, denn es ist eine Eigentschaft von sehr klugen Leuten, dass sie so voller Selbstzweifel sind. Darum wünsche ich Dir einfach ganz viel Selbstvertrauen. Selbstvertrauen heißt ja nicht, dass man davon überzeugt ist keine Fehler zu machen, sondern es heißt, dass man keine Angst vor Fehlern hat weil man weiß, wie man diese korrigieren und weitermachen kann.

    Ganz viel Kraft für Dich und “Don’t Panic!” 😉

  2. das ist ja ein Arschloch Lehrer. Aber du schreibst super (auch hier nochmal) und MIR scheint es, als wärst du mega auf dem richtigen Weg mit all diesen Zweifeln und Ängsten und dem Wunsch nach dem Holzofen. Ey, irgendwann wirst du ihn so genießen (den Holzofen) und das andere wird auch nicht mehr so krass sein. Im Grunde ist das das Zeichen für Lebendigkeit und obskurer Weise ist scheiße lebendig sein besser als halbtot vor sich hinzuwabern. Go on!

  3. Grandios! Dankeschön für diesen Text. Ich habe auch nie richtig geplant und weigere mich heute noch. Stattdessen habe ich angefangen zu experimentieren. Das macht Spaß, ist aber teuer und auch sehr anstrengend. Aber ich lerne viel über mich selbst. 🙂 Ich glaube, ich finde mich langsam damit ab, dass ich immer eine Suchende bleiben und nie ankommen werde.

    1. Vielen Dank für den Kommentar und die liebe Leseempfehlung. Ich mag diesen Begriff sehr gerne, die “Suchende”. So sehe ich mich selbst auch, und ja, es ist vermutlich permanent. 🙂 Wenn aber doch immer wieder so coole Dinge wie bei Dir herauskommen, ist daran ja nichts Schlechtes zu finden! (Hust, für alle Leser*innen: Das war eine unbedingte Empfehlung, mal bei http://www.bueronymus.de vorbeizuschauen!)

  4. Ich wünsche dir sehr das Gefühl, genau auf dem richtigen Kurs zu sein (auch wenn es zwischendurch schlingern wird)! Mut – und viele andere Qualitäten – hast du jedenfalls schon sehr bewiesen.